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Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2022. 684 Seiten, 32,50 EUR

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Anna Axtner-Borsutzky: Walter Müller-Seidels fragmentarischer Erinnerungsbericht. Autobiographik und Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Peter Lang Verlag, Berlin 2022. 374 Seiten, 69,95 EUR.

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Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Hg. von Gunter Reiss. De Gruyter, Berlin 2017. 224 Seiten, 99,95 Euro

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"Müller-Seidels Studie ist das unbestrittene Ereignis des Schiller-Jahres 2009." (Die Zeit)
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Wulf Segebrecht: "Jede Wissenschaft wird Humanwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein". Walter Müller-Seidel wird heute 90 Jahre alt [F.A.Z., 1. Juli 2008]

"Ich halte dafür, daß das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und eure neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein". Diese Worte Galileis aus Brechts Schauspiel hat der Münchener Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel, der heute 90 Jahre alt wird, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten mehrfach zustimmend zitiert. Er ist überzeugt davon, dass sie nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern, recht verstanden, in nicht geringerem Maße auch für die Geisteswissenschaften gelten, so dass er, ein berühmtes Medizinerwort abwandelnd, sagen kann: "Jede Wissenschaft wird Humanwissenschaft sein, oder sie wird nicht sein".

Dass sie es nicht zu jeder Zeit gewesen ist und immer wieder in Gefahr gerät, es nicht zu sein, ist für Müller-Seidel ein permanenter Anstoß zu Analyse, Diskussion und Wertung dichterischer Werke geworden. Konsequenterweise münden seine literaturwissenschaftlichen Studien oft in den "Fragenkreis des Menschlichen" ein, der in der seinerzeit aufsehenerregenden Streitschrift "Probleme der literarischen Wertung" (1965) das letzte und entscheidende Kriterium der Wertung markiert. So verhält es sich auch in der großen Monographie über "Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland" (1975), deren abschließender Abschnitt das Beziehungsverhältnis von "Gesellschaft und Menschlichkeit" in Fontanes Werk unter Rückgriff auf Schillers "Horen"-Programm erörtert, in der Überzeugung, "daß Literatur und Literaturwissenschaft mitwirken 'am stillen Bau besserer Begriffe [.], von dem zuletzt alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes abhängt'".

Auf Schiller kommt Müller-Seidel nicht zufällig zurück; dessen Dramen waren schon Gegenstand seiner Dissertation (1949) in Heidelberg bei Paul Böckmann gewesen, und als Herausgeber von Briefen Schillers im Rahmen der Nationalausgabe und des "Jahrbuchs der deutschen Schillergesellschaft" hat er diesen Dichter immer wieder ins Zentrum seiner Interessen gerückt, wenn es galt, die "Geschichtlichkeit der deutschen Klassik" (1983), Schillers Idee der Humanität und seine Modernität zu erläutern. Noch für sein jüngstes, kurz vor dem Abschluß stehendes Buch über Schillers politische Ästhetik hat er Max Piccolominis Wort "Nicht das Große, das Menschliche geschehe" als Titel gewählt.

Auch schon in seiner Habilitationsschrift über Heinrich von Kleist ("Versehen und Erkennen", 1961) wird "Die Frage des Humanen" erörtert, die sich um so dringlicher stellt, als Kleist - man denke nur an "Penthesilea" - offensichtlich "Deformationen des Menschen in einer befremdlichen und oft auch bestürzend-entsetzlichen Weise [.] in den Mittelpunkt seiner Dichtkunst" stellt. Müller-Seidels bedenkenswerte Folgerung aus dieser Beobachtung - "wahr ist das Humane immer nur im Maße der Bedrohungen, die es bewältigen muß" - enthüllt einerseits Kleists Modernität und öffnet zum anderen den Weg zur Moderne überhaupt, den Müller-Seidel seither konsequent beschritten hat.

Die zu bewältigenden Bedrohungen des Humanen werden gerade dann sichtbar, wenn die Literatur der Moderne vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte und der Geschichte der Wissenschaften betrachtet wird. Solchen literatur- und zugleich wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweisen hat sich Müller-Seidel seit den siebziger Jahren zunehmend zugewandt, wobei vor allem die Kontexte der Medizin und der Justiz in den Blick treten. Das geschieht beispielhaft in einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel "Medizin im literarischen Text. Krisen der Humanitätsidee auf dem Weg in die Moderne" (1992), in dem es als kritische Antwort auf medizinwissenschaftliche Euthanasie-Rechtfertigungen kategorisch heißt: "es gibt kein humanes Töten, wie es kein humanes Sterben gibt, wenn es Töten ist". Über den hier Attackierten, Alfred Erich Hoche, der Alfred Döblins Doktorvater war, hat Müller-Seidel 1999 in der Schriftenreihe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eine weitausgreifende "Lebensgeschichte im Spannungsfeld von Psychiatrie, Strafrecht und Literatur" publiziert. Zeitgeschichtliche rechtswissenschaftliche Debatten über Deportationen, Straflager, Tötungen von Geisteskranken und Juden bilden auch den schauerlichen Hintergrund zu dem Buch "Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung ,In der Strafkolonie' im europäischen Kontext" (1986) - Medizin- und Justizkritik werden unter solchen Umständen zu Ehrenzeichen der Moderne.

Die Frage nach dem Humanen in der Wissenschaft und in der Literatur bildet unverkennbar das Kontinuum in Müller-Seidels Werk. Das klassisch Humane ist kein bequemes Refugium für Schöngeister, kein harmonisierendes Deutungsangebot für Bildungsbürger und keine ein für alle Mal gültige Norm. Es ist vielmehr eine Bedingung menschenwürdigen Lebens, die dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist und deshalb zu jeder Zeit aufs Neue reflektiert und bestimmt werden muß. Mit der Kritik an den Pervertierungen der Humanitätsidee, vor allem aber mit einer der Gegenwart gemäßen Neubestimmung des Humanen ist Walter Müller-Seidel vorrangig befaßt. Erreichte, aber auch (wie im Fall der Ballade) ausbleibende Erneuerungen von Bewußtseinsverhältnissen, Denkformen und Gattungen der Dichtung finden deshalb sein vorzügliches Interesse. Dafür stehen seine Arbeiten über Goethes jugendliche Alterslyrik, über "Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen", über Büchner, Storm, Hofmannsthal, Thomas Mann und viele andere, aber auch der fesselnde Aufsatz über "Ästhetik und Ideologie des Kampfes" in der Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts, der, wie das Kafka-Buch, ein Kapitel aus einer in Arbeit befindlichen Darstellung zur literarischen Moderne "von der Jahrhundertwende bis zu ihrem Auszug im Jahre 1933" ist. Man darf von diesem Buch eine von Grund auf neue Bestimmung der Moderne erwarten.

An einer solchen Neubestimmung ist Müller-Seidels unentwegter kritischer Widerspruch gegen bisherige Urteile, sofern sie mit Herrschaftsansprüchen auftreten, an Instrumentalisierungen und Ideologisierungen jeder Art in den Wissenschaften und in der Literatur maßgeblich beteiligt; freilich geschieht das auf differenzierte Weise. Geradezu programmatisch hat er in diesem Sinne schon 1961 in seiner Münchener Antrittsvorlesung 1961 das Thema "Gottfried Benn und der Nationalsozialismus" behandelt - ein seinerzeit im Raum der Universität noch unerhörtes Ereignis. Er hat die Tugenden des Widerspruchs und der Kritik schon während seiner Studien- und Soldatenzeit im Dritten Reich ausgebildet, dessen Ende er als "einzigartige Befreiung" erlebte; er hat sie als Lehrer in seinen Vorlesungen und Seminaren vorbildlich an seine zahlreichen Schüler weitergegeben, die durch ihn Wissenschaft als Gespräch (und nicht selten als Streitgespräch) erfuhren; und er hat die Literaturwissenschaft schließlich als Vorsitzender der Hochschulgermanisten und in zahlreichen anderen akademischen und fachspezifischen Funktionen zur Zeit der Studentenunruhen gegen alle Versuche, sie endgültig zu verabschieden, unverzagt in Schutz genommen. Sie hat seinen Forschergeist, seine Neugier, seine Revisionslust und sein kritisches Festhalten am Humanen nach wie vor bitter nötig.

Der Artikel ist leicht gekürzt erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.7.2008.